Sünden der Väter – eine kurze Erzählung aus den Kriegen
Nur acht Jahre nachdem der Rest der Welt das Tausendjährige Reich mühsam zu Boden gerungen hatte, wurde eins der vielen Baby-Boomer Kinder geboren. Beim Aufwachsen bemerkte es seltsame Dinge, die es nicht verstand. Da stimmte etwas nicht.

Der Nachbar, Herr A., hatte das Einkaufsnetz unter seinem Armstummel eingeklemmt. Einigen Männern fehlte der Arm sogar ganz. Das Holzbein von Herrn S. knarzte. Das Kind fragte die Oma danach. So etwas passiert im Krieg, sagte sie. Der Besenbinder, Herr E., trug eine Sonnenbrille in seiner Werkstatt und sprach in einem nasalen Ton. Ist das auch im Krieg passiert? Das Kind wollte es wissen, aber die Oma mochte nicht weiter darüber sprechen und wechselte das Thema.

Opa Eugen W. hatte nicht gehört, dass das Thema tabu sei. Einige Schulkameraden waren aus Flandern nicht heimgekommen, darüber musste er reden. Er hatte Glück im Unglück gehabt: sein steifer Finger störte beim Schießen. So wurde Eugen W. „Bursche“ eines Feldkommandeurs. Er kümmerte sich um General Wildemanns Ausrüstung, putzte seine Stiefel, reinigte seine Pistole und striegelte sein Pferd. Der General überlebte, weil er sich von Gewehrkugeln, von Gasgranaten usw. fernhielt. Der Bursche überlebte, weil er sich in der Nähe des Generals aufhielt.
Eugens jüngerer Bruder (der Großonkel) hatte nicht ganz so viel Glück. U-Boote der kaiserlichen Marine waren enger als zu eng, die Luft immer verbraucht und englische Torpedos unterwegs. Ganz nah, nicht weiter als die Gedanken im Kopf. „Als er vom Krieg zurück kam, war er zu nichts mehr zu gebrauchen,“ sagte Eugen. „Wir haben ihn nach Alzey geschafft, da ist er dann gestorben.“ (Alzey war der Ort, des regionalen Irrenhauses, heute „RLP Fachklinik für Psychiatrie“.)
August P., der andere Opa, hatte viel Glück im Unglück. Es kam in der Gestalt einer französischen Polizeieinheit: sie verhaftete ihn bei Metz, als der 1. Krieg losgetreten worden war. er war auf der Rückreise aus Tunis, der letzten Station des Wanderburschen. Das Glück bewahrte ihn vor Senfgas, Gewehrkugeln, Bajonetten und Typhus, aber die Verlobte musste vier Jahre länger auf ihn warten.
Augusts Bruder Louis war Matrose der Handelsflotte und starb 1923 in Alzey.
Was war mit dem Sohn Heinz P.? Hatte er Glück im Unglück? Ganz bestimmt - er überlebte den 2. Weltkrieg! Knapp 23 Jahre nach dem 1. Krieg fand er sich auf der Krim wieder, wo er mit dem „Unternehmen Barbarossa“ unterwegs war, dem Überfall auf die Sowjetunion. Er war 17 und gerne dabei. Anfangs machte es nichts, dass er die Sprache nicht verstand, Wegweiser nicht lesen konnte und auf ihn geschossen wurde.
Dann änderte sich etwas: der Junge fing sich im sumpfigen Gelände der Krim Malaria ein. Weit weg vom Militärlager kletterte die Körpertemperatur auf 40º Celsius. (Ein Strichlein mehr und der Mensch ist nicht mehr krank, sondern tot.) Dem Fieber folgten Zähneklappern, Schüttelfrost und Todesangst. Chinin hatten sie keins dabei. Der Zugfüher befahl ihm, bei den Bauern ein Pferd „zu requirieren“ und zum Feldlazarett zu reiten. Er zeigte mit dem Finger ungefähr in die Richtung, nicht weiter als 15km, sagte er noch.
Requirieren geht so: Bauern bei der Arbeit finden, Gewehr spannen, auf die Leute richten und auf das Pferd zeigen. Fertig! Die Tataren verstanden diese Zeichensprache sofort und führten ihr Pferd zum waffentragenden Kindersoldaten. Geritten war er noch nicht, auch nicht MIT Sattel. Aber wo war das Lazarett? Den Namen des Dorfes hatte er ja gehört, einen Fingerzeig in die richtige Richtung hatte er bekommen.

Eine Landschaft auf der Krim
Unterwegs betete der Krieger still in sich hinein, auch wenn er gar nicht gläubig war. Er flehte und bettelte, schweißnass, klappernd und zitternd. Bitte hilf mir, das Lazarett zu finden. Ich brauche Hilfe, bitte hilf mir. Ich will leben.
Seine Aufgabe: sich am Leben zu erhalten - kaum zu erfüllen.
Irgendwie gelang es doch.
Der Vater sprach selten darüber und wenig. Ganz entgegen seiner Gewohnheit war seine Stimmlage dann sehr beherrscht, die Erzählung aber nicht.
Im Lazarett hatten Schwestern das Kommando. Der Patient hatte unstillbaren Durst - nein, so kann man das nicht sagen: er trocknete von innen her aus, seine Zunge klebte am Gaumen, sein Hals war schon Staub. Er bettelte, flehte, schrie die Nonnen an vor lauter Angst um sein Leben: gebt mir ein Glas Wasser zu trinken. Jetzt sofort. Sie schrien zurück, er sollte seinen Mund halten, sonst … Sie konzentrierten sich darauf, mit Wadenwickeln sein Fieber zu senken und wärmten ihn mit Bettflaschen. Sie retteten sein Leben.
Mit dem Festkrampfen an den Zügeln hatte Heinz P. seinen Überlebenswillen einem anderen übergeben müssen, zusammen mit der Todesangst. Es musste einer aus der Zukunft sein, damit nicht alles verloren ging. Der Erbe war noch nicht gezeugt, er lebte noch nicht einmal in der Vorstellung. Jahrzehnte später, wenn der Nachkomme in seinen Nächten schweißgebadet und zitternd aufwachte, erkannte er, dass etwas in ihm war. Das war nicht sein eigenes.Von Epigenetik war damals noch gar nicht die Rede.
Er wollte es nicht annehmen und ergriff die Flucht. Weg vom Elternhaus. Zu den Soldaten. Weg aus der kleinen Stadt in eine andere kleine Stadt, aber weit weg. Ein Gezeichneter aus Kriegszeiten wollte er nicht sein. In die ferne Weltstadt zur geduldigen Lebenspartnerin. Der vertrauten, angetrauten, immer weiter weg. Und immer wieder suchend zurück. Danke für die Medizin, die heute irgendwie alles zusammenhält.

Bei dir gibt es pro Tag mindestens zwei Weltuntergänge, witzelte mein australischer Freund Goran. Er wusste, wovon die Rede war. Er war noch Kind, als der Bosnische Krieg begann. Sein Vater war Kommandeur eines Frontabschnitts in Sarajewo. (As salam aleikum, Ibrahim.)
Aber ICH, also ich selbst, ich war nie im Krieg.
Im Krieg? Niemals. Der Krieg war in mir.
„Wenn du Frieden willst, bereite den Krieg vor. Die Römer wussten es schon!“ erklärt uns Alexander Graf Lambsdorff, Botschafter der BRD in Moskau. Baltische Edelleute sind per Geburtsrecht hypothetisch vom Waffendienst befreit. IHR JOB IST ES, Leute wie dich und mich zum Waffendienst zu zwingen. Sie nennen uns Lumpenpazifisten. Ich glaube nicht an Gott, aber ich bete, dass ich dem Grafen nie begegne, denn ein Pazifist bin ich nicht, kann es nicht sein. Ich will mich wehren.
So entsteht ein Bild, dass ein Zusammentreffen böse ausgehen könnte. Für mich. Und für den Grafen.
Ein neuer Krieg wird vorbereitet. Die Planer sind bereit dazu. Sie wollen den Frieden erhalten, sagen sie. Wer aber den Krieg als Option betrachtet, ist für uns verloren. Wir müssen diese Leute LOSWERDEN. Mit allem, was wir haben, wollen wir sie behindern, ihnen Steine in den Weg legen, Propaganda entkräften, Gruben graben. Ich bin nicht für Gewalt, aber im Kriegsfall könnte ich eine Ausnahme machen. Ich habe eine Lehre abgeschlossen: ich bin Soldat gewesen. DIE DEN KRIEG BEKÄMPFEN, SIND UNSERE FREUNDE. DIE IHN VORBEREITEN, MÜSSEN BEKÄMPFT WERDEN. NICHT DEMNÄCHST, SONDERN JETZT.